Studienzusammenfassung
Factors that contribute to the underrepresentation of women in science careers worldwide. A literature review

Auf Basis einer Untersuchung von 470 Beiträgen in Zeitschriften entwickelten die Autor:innen einen umfassenden Erklärungsansatz für den niedrigen Frauenanteil in natur- und ingenieurswissenschaftlichen Karrieren. Die fünf Hauptfaktoren untergliedern sich in individuelle, familiäre, soziale, ausbildungsbezogene und arbeitsmarktbezogene Faktoren.

Studienzusammenfassung

Zusammengefasst für FEMtech von Julia Greithanner (JOANNEUM RESEARCH)

Hintergrundinformationen

  • Naturwissenschaft und Technik sind wichtige Faktoren für den sozialen und ökonomischen Fortschritt in der Gesellschaft. Allerdings sind Karrieren in den Natur-und Ingenieurwissenschaften nach Geschlecht sowie anderen sozialen Faktoren segregiert.
  • Die Studie analysiert aktuelle wissenschaftliche Literatur zur niedrigen Repräsentanz von Frauen in wissenschaftlichen Karrieren im Bereich Naturwissenschaften und Technik.
  • Die Forschungsfrage der Studie lautet: Welche Faktoren tragen dazu bei, dass Frauen in naturwissenschaftlich-technischen Berufen weltweit unterrepräsentiert sind?
  • Ziel der Studie ist es, Faktoren für diese niedrige Repräsentanz von Frauen basierend auf der Literaturanalyse zu identifizieren. Dabei sollen die Ergebnisse entlang von drei aufeinanderfolgenden Karrierestufen differenziert werden:
    • Berufswahl (Zugang zur Hochschulbildung)
    • berufliches Fortbestehen (Teilnahme an wissenschaftlichen Studiengängen im Grundstudium und im Hauptstudium) 
    • und Karriereaufstieg (Fortschritte und Verfolgung wissenschaftlicher Karrieren)

MINT: in dieser Zusammenfassung werden die Bezeichnungen MINT (Mathematik/Informatik/Naturwissenschaft/Technik), Naturwissenschaft und Technik oder Natur-und Ingenieurwissenschaften synonym verwendet. Im englischsprachigen Originalartikel wird ausschließlich der Begriff „science“ verwendet, wobei auf STEM/MINT Bezug genommen wir, ohne diesen Begriff eindeutig abzugrenzen.

Methodik

Die Literaturanalyse wurde in drei Arbeitsschritten durchgeführt:

  • Bestimmung von Selektions-und Klassifizierungskriterien für die Beiträge
  • Auswahl der Publikationen: jene Publikationen mit den meisten Zitierungen als auch Publikationen in Journals mit den meisten Veröffentlichungen zu diesem Thema wurden für die Analyse ausgewählt
  • Thematische Analyse und Entwurf eines Modells, das alle Ursachen für den geringen Frauenanteil erklärt

Insgesamt wurden für den Literatur-Review 470 Beiträge aus Zeitschriften mit hohem Impactfaktor, die zwischen 1985 und 2018 veröffentlicht wurden, herangezogen, die sich mit den Einflussfaktoren auf den Zugang, Teilhabe und Fortschritt von Frauen in MINT-Berufen bzw. Karrieren im Bereich Naturwissenschaften und Technik befassen. 56 Papers, die sich auf die Forschungsfrage des Literatur-Reviews beziehen, wurden für eine detaillierte Analyse ausgewählt. Journal of Research in Science Teaching und Psychology of Women Quarterly machten zusammen 17% der untersuchten Beiträge aus.

Ergebnisse

Auf Basis der Literaturanalyse wurde von den Autor:innen ein umfassender Erklärungsansatz für den niedrigen Frauenanteil in natur-und ingenieurwissenschaftlichen Karrieren entwickelt, der in fünf Hauptfaktoren untergliedert ist:

  • Individuelle Faktoren
  • Familiäre Faktoren
  • Soziale Faktoren
  • Ausbildungsbezogene Faktoren
  • Arbeitsmarktbezogene Faktoren

Individuelle Faktoren

  • Biologische Aspekte wurden in Studien zunächst untersucht, aber es konnten keine Anhaltspunkte für biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern gefunden werden. So wählen Frauen mit stark ausgeprägten mathematischen Fähigkeiten öfter Karrieren in den Geisteswissenschaften als Männer mit vergleichbaren Fähigkeiten.
  • Persönlichkeit und Selbstwirksamkeit: Holland's Theorie der Berufswahl (1985) bestätigte, dass die Persönlichkeit die Entscheidung des Einzelnen beeinflusst und der Beruf nach dem Grad der individuell erwarteten Zufriedenheit gewählt wird. Frauen wie Männer wählen Berufe bzw. Arbeitsumgebungen, in denen sie ihre Persönlichkeit weiterentwickeln können. Zudem haben Studien gezeigt, dass Frauen, die einen MINT-Studiengang wählen, eine deutlich höhere naturwissenschaftlich-technische Selbstwirksamkeit angeben, als diejenigen, die unentschlossen sind oder sich für ein nicht-naturwissenschaftlich-technisches Studienfach entscheiden.
  • Die Einstellung zu Naturwissenschaft und Technik kann erklären inwiefern eine MINT-Laufbahn für Frauen attraktiv ist. Studien haben jedoch gezeigt, dass es hierbei signifikante Unterschiede von Frauen und Männern gibt. Frauen fühlen sich weniger zu Naturwissenschaft und Technik hingezogen als Männer.

Familiäre Faktoren

  • Familiäre Unterstützung und die Ermöglichung von Erfahrungen im MINT-Bereich wirken sich, laut einigen Studien, deutlich auf das Interesse von Mädchen für naturwissenschaftlich-technische Berufe und auf die Wahrscheinlichkeit aus, dass sie eine naturwissenschaftlich-technische Laufbahn einschlagen.
  • Familiärer Hintergrund: Einige Erhebungen konnten feststellen, dass Eltern mit MINT-Ausbildungen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Frauen auch eine naturwissenschaftlich-technische Ausbildung aufnehmen. Allerdings scheint sich dies nicht besonders auf den Verbleib in diesem Berufsfeld nach einem abgeschlossenen Studium auszuwirken.
  • Bildungsniveau der Eltern: Frauen, deren Eltern ein hohes Bildungsniveau haben, entscheiden sich eher für eine naturwissenschaftlich-technische Karriere. Dafür gibt es drei Gründe: 
    • Diese Eltern (1) wünschen und/oder erwarten Leistungen in diesem Bereich, 
    • (2) können eine Ausbildung eher finanzieren 
    • und (3) unterstützen ihre Töchter bei der Wahl für weniger traditionellere Berufe.
  • Stereotype gegenüber Naturwissenschaften und Technik: Vorbehalte in der Familie gegenüber Natur-und Ingenieurwissenschaften sowie Geschlechterstereotype bezüglich einer MINT-Karriere haben einen Einfluss auf die beruflichen Entscheidungen von Frauen.
  • Haushaltsbezogene Anforderungen: Die Arbeitsbedingungen in naturwissenschaftlichen Karrieren (z.B. Projektfinanzierung, Wettbewerbsdruck, Arbeitszeiten am Wochenende) erschweren die familiären Verpflichtungen von Frauen stärker als in anderen Berufen. Zusätzlich ist die Vereinbarkeit mit der Karriere des Partners eine Herausforderung unter der häufig die Karrieren von Frauen leiden.

Soziale Faktoren

  • Kulturelle Vorstellungen über Geschlecht und MINT-Karrieren: Stereotype über die naturwissenschaftlichen Fähigkeiten von und die Erwartungen an Frauen können sich auf ihre beruflichen Entscheidungen auswirken. Bereits Kinder glauben, dass Wissenschaft eine Männerdomäne ist und deshalb interessieren sich bereits weniger Schülerinnen für eine MINT-Karriere. Einige Studien zeigten, dass sowohl Frauen als auch Männer die Kenntnisse sowie das Engagement von Frauen in diesen Berufen schlechter einschätzen und ihnen deswegen auch weniger zutrauen und sie seltener einstellen.
  • Fehlende Rollenkongruenz: Aufgrund des (zugeschriebenen) Interesses von Frauen an dienstleistungs-und sozialorientierten Berufen, befürchten viele Frauen, dass MINT-Berufe nur begrenzt die Möglichkeiten bieten, diesen Interessen nachgehen zu können und interessieren sich daher weniger für eine Karriere in diesen Bereichen.
  • „Kühles“ Umfeld: Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen sowie männlich geprägte, leistungsorientierte Vorstellungen von Karriere und Erfolg können auch die Unterrepräsentation von Frauen beeinflussen.
  • Rassistische Barrieren: Einige Studien deuten darauf hin, dass die ethnische Zugehörigkeit von Frauen ihre Erfahrungen in MINT-Fächern beeinflussen (Geschlechterdiskriminierung, rassistische Vorurteile und Voreingenommenheit).
  • Mangel an Vorbildern: Der Anteil der Frauen in MINT-Studienfächern korreliert mit dem prozentualen Anteil weiblicher Lehrkräfte in diesen Fächern (Sonnert et al. 2007). Studien stellten dahingehend fest, dass sich Studentinnen mit den MINT-Fächern mehr identifizieren, wenn sie dort Kontakt zu Wissenschaftlerinnen haben. Weibliche Vorbilder sind also bedeutend für Frauen in wissenschaftlichen Berufen.

Ausbildungsbezogene Faktoren

  • Wissenschaftliche Lehrpläne und Pädagogik: Studierende, die sich für einen Berufs-/Ausbildungswechsel entschieden haben, geben die Lehre als auch die Lehrkräfte als entscheidenden Grund an. Letztere werden als unnahbar und unmotiviert wahrgenommen. Die Pädagogik hat also einen großen Einfluss auf das Bild von Frauen auf Naturwissenschaften. Daher sollte die Lehre frauenfreundlicher gestaltet und gender bias in der Lehre (Beurteilung von weiblichen Studierenden, Aufmerksamkeit gegenüber Studentinnen) vermieden werden. Denn häufig werden Jungen nachsichtiger beurteilt und die Arbeit von Studentinnen nicht entsprechend anerkannt und bewertet.
  • Akademische Leistungen: Im Kindesalter gibt es bei der Wahrnehmung von Objekten oder Räumen noch keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Die Fähigkeiten, die für MINT-Fächer essentiell sind, werden erst durch ein komplexes Zusammenspiel von intrinsischen Fähigkeiten entwickelt, die durch alltägliche Erfahrungen und Unterricht verinnerlicht werden. Aber Frauen, die mindestens genauso gut oder besser für ein MINT-Studium vorbereitet sind wie Männer, brechen trotzdem häufiger ihr Studium ab. Daher ist die akademische Leistung und die Unterrepräsentation von Frauen in MINT-Fächern nicht hinreichend durch angeborene naturwissenschaftlich-technische Fähigkeiten erklärbar.
  • Glaube an die eigenen naturwissenschaftlich-technischen Fähigkeiten: Laut Studien wählen Schüler:innen, die glauben, dass sie über naturwissenschaftlich-technische Fähigkeiten verfügen, eher einen solchen Studiengang. Erfolg in diesen Fächern beeinflusst stark den Glauben an die eigenen Fähigkeiten und an zukünftigen Erfolg in diesen Disziplinen. Dies führt dazu, dass man eher in diesen Fächern weiterhin arbeiten will.
  • Berufliche Erwartungen und Stereotype: Der Beruf der/des Wissenschaftlerin/Wissenschaftlers wird von Schüler:innen als nicht besonders attraktiv eingeschätzt. Während in den Industrieländern die Naturwissenschaften allgemein aber insbesondere von Frauen nicht als ein attraktives Fach wahrgenommen werden, gibt es in Entwicklungsländern weniger geschlechtsspezifische Unterschiede und Studierende mögen naturwissenschaftliche Kurse.

Arbeitsmarktbezogene Faktoren

  • Mangel an Informationen über MINT-Berufe: Eine lateinamerikanische Studie konnte feststellen, dass ein Mangel an Informationen bzw. Fehlinformationen durch Lehrkräfte Schüler:innen von einer MINT-Laufbahn abhalten. Der Mangel an Informationen für Schüler:innen geht dort auch mit einem Mangel an naturwissenschaftlich-technischen Fachkräften einher.
  • Vertikale und horizontale Segregation: Zahlreiche Studien befassen sich mit der vertikalen und der horizontalen Segregation in Forschung und Entwicklung. Neben der herausfordernden Vereinbarkeit von Familie und Beruf, liegt das Problem für Ceci und Williams (2011) vor allem in der Kindererziehung, den geschlechtsbezogenen Erwartungen, der Wahl des Lebensstils und der beruflichen Karriere begründet.
  • Lohnunterschiede: Frauen werden selbst bei gleicher Qualifikation und Position schlechter bezahlt und seltener befördert als Männer. Hierfür werden in der Literatur diverse Gründe angeführt, u.a. Unterschiede im angesammelten Kapital (Ausbildung, Berufserfahrung etc.); Unterschiede bei unerwünschten und bei verfügbaren Arbeitsplätzen; Frauen sind überproportional in lehrintensiven Einrichtungen beschäftigt, die weniger zahlen; Frauen arbeiten eher in Teilzeitstellen, um Familie und Beruf vereinbaren zu können.

Zusammenfassung

Die Ergebnisse zeigen, dass die geringe Beteiligung von Frauen in MINT-Berufen komplexe und multikausale Gründe hat. Es ist offenbar das Ergebnis eines Zusammenspiels diverser Faktoren in den verschiedenen Lebensabschnitten von Frauen und Männern.

Als Ergebnis dieses Literatur-Reviews kann festgehalten werden, dass die Unterrepräsentation von Frauen nicht auf biologische Faktoren, geringere Kenntnisse oder angeborene Aspekte zurückzuführen ist. Vielmehr konnten in der Literatur verschiedene soziokulturelle Faktoren gefunden werden, die an unterschiedlichen Stellen im Leben der Frauen Einfluss ausüben.

Drei Bereiche erklären die Unterrepräsentation von Frauen in der Wissenschaft: 

  • die Berufswahl, 
  • die Beharrlichkeit in der Karriere 
  • und die Karriereentwicklung. 

In jedem der drei Bereiche wirken die fünf unterschiedlichen Einflussfaktoren und beeinflussen die Teilnahme von Frauen an MINT-Berufen.
Öffentliche wie private Forschungseinrichtungen sowie tertiäre Ausbildungseinrichtungen können auf Basis dieser Erklärungsfaktoren umfassende Maßnahmenbündel entwerfen, um die Partizipation von Frauen in MINT-Bereichen zu fördern.

Grafik: Fünf Einflussfaktoren

Quelle: Avolio, Beatrice; Chávez, Jessica; Vílchez-Román, Carlos (2020): Factors that contribute to the underrepresentation of women in science careers worldwide: a
literature review. Social Psychology of Education 23, 773–794. 

Über diese Publikation

Publikationsart: Studie
Publikationsquelle: International
Publikationssprache: Deutsch
Autor:innen: Avolio, Beatrice; Chávez, Jessica; Vílchez-Román, Carlos
Titel: Factors that contribute to the underrepresentation of women in science careers worldwide. A literature review
Erscheinungsjahr: 2020
Erschienen in: Social Psychology of Education. Vol. 23. No. 3