Expertin des Monats
Apr. 2021
DIin Dr.in mont. Simone Viola Radl

"Auch heutzutage treffen wir im Alltag oder Beruf immer noch auf klassische Rollenklischees und das Vorherrschen eines männlich autoritären Images. So finden wir Frauen uns in Haupt- und StatistInnenrollen in der Technikkulisse wieder – zwischen Feierabendbier, Hosenanzügen und Androgynie. Die Weiblichkeit ist abgeschminkt. Getrieben durch klassische Rollenklischees erwirkten Frauen erst speziell durch äußere Anpassungen an gesellschaftskonforme Vorstellungen Respekt, Stimme und/oder Erfolg in technischen Berufen und patriarchalischen Kreisen. Die Repression der Frau besteht jedoch nicht darin, dass sie von ihrer Selbstverwirklichung abgehalten wird, sondern in der Negation und Abwertung spezifisch weiblicher Tugenden und Tätigkeiten durch eine ausgesprochen instrumentelle und autoritäre männliche Kultur. Diversität im Allgemeinen und Einbindung unterschiedlich kulturell, sozial, religiös und anders geprägter Persönlichkeiten hat positive Auswirkungen auf Teamdynamik und unternehmerische Entwicklung. Um umwelt- und sozialkompatible Produkte herzustellen, brauchen wir die Beteiligung und Erfahrung nicht nur von Frau und Mann mit ihrer gesamten natürlichen Weiblichkeit und Männlichkeit, als auch aller gesellschaftlicher Gruppen. Es gilt eine Akzeptanz des Frauenbilds in männerdominierten Berufen – Frau sein, Frau leben – zu erwirken, in dem wir selbst uns zugestehen dieses mutig, selbstbestimmt und authentisch nach außen zu tragen." 

Interview

INTERVIEW MIT Simone Viola Radl

Was steht auf Ihrer Visitenkarte?
Dr. Simone Viola Radl
Central Process Development
Semperit Technische Produkte GmbH

 

Was macht die Semperit AG Holding genau?
Die börsennotierte Semperit AG Holding ist eine international ausgerichtete Unternehmensgruppe, die in den Sektoren Industrie und Medizin hochspezialisierte Produkte aus Kautschuk entwickelt, produziert und in über 100 Ländern weltweit vertreibt. Das Produktportfolio ist vielfältig und für den ständigen Wandel der unterschiedlichen Märkte gerüstet. Es umfasst unter anderem Hydraulik- und Industrieschläuche, Fördergurte, Rolltreppen-Handläufe, Bauprofile, Seilbahnringe, Produkte für den Eisenbahnoberbau und Untersuchungs- und Operationshandschuhe.

Die Zentrale des österreichischen Traditionsunternehmens, das seit 1824 besteht, befindet sich in Wien. Die Semperit-Gruppe beschäftigt weltweit rund 7.000 Mitarbeitende (Vollzeitäquivalent), davon rund 3.800 in Asien und rund 900 in Österreich (Wien und Produktionsstandort Wimpassing, Niederösterreich). Zur Gruppe gehören weltweit 14 Produktionsstandorte sowie zahlreiche Vertriebsniederlassungen in Europa, Asien, Australien und Amerika.

 

Sie sind Prozessentwicklerin. Was machen Sie da genau?
Im Bereich der Zentralen Verfahrensentwicklung arbeite ich als Prozessingenieurin im Team mit vier weiteren KollegInnen. Wir bearbeiten proaktiv und in Beauftragung unserer unterschiedlichen Businesssegmente Projekte zur kontinuierlichen Harmonisierung, Verbesserung und Optimierung der Kernprozesse mit der Etablierung eines fundierten, gruppenweit einheitlichen Verständnisses dieser Prozesse als Ziel. Die Entwicklung neuer Prüfmethoden, Finite elemente methode - Berechnungen und Prozesssimulationen sind ebenso Bestandteile unseres Jobprofils. Ich bin Ansprechpartnerin für die Prozesse des Gummispritzgusses und der Vulkanisation, sowie für materialspezifische Fragestellungen innerhalb der Entwicklung unterschiedlicher Produktherstellprozesse. Mein Arbeitsalltag ist geprägt von einer dynamischen Projektabwicklung mit Hands-on-Mentalität. Dazu gehören sowohl Versuche in der Produktion, als auch die Materialprüfungen an Prüfmaschinen selbst und in Zusammenarbeit mit KollegInnen und KundInnen durchzuführen. Auch der laufende Austausch, die Vernetzung und Beauftragung/Kooperation mit externen PartnerInnen aus wissenschaftlichen Institutionen oder LieferantInnen gehören zum Arbeitsalltag.

 

Was fasziniert Sie an Ihrem Job?
In meinem Job trete ich unter anderem als Ansprechpartnerin für materialspezifische Entwicklungen auf. Somit gelingt es mir meine Faszination für Materialien in meinem Joballtag zu integrieren. Des Weiteren gefällt mir die zentrale Funktionsausübung innerhalb von Semperit. Dadurch ergibt sich die enge Zusammenarbeit mit allen Businesssegmenten. So ist der Arbeitsalltag abwechslungsreich gestaltet, was mir persönlich sehr wichtig ist.

 

Wie hoch ist der Frauenanteil bei der Semperit Holding AG?
Im Jahr 2020 lag der Anteil der Frauen unternehmensweit bei 22%.

 

Was unternimmt die Semperit AG Holding zur Förderung von Chancengleichheit in der Organisation?
Die Semperit AG Holding verfolgt eine gruppenweite Nachhaltigkeitsstrategie. Konkrete Entwicklungsziele werden auch im Themenbereich „Diversität und Chancengleichheit“ innerhalb dieser Strategie verfolgt. Diversität und Chancengleichheit sind für das Unternehmen wichtige Bestandteile eines erfolgreichen MitarbeiterInnenmanagements. Für Semperit sind Vielfalt und Respekt integrale und unverzichtbare Elemente der Unternehmenskultur, die unter anderem auch bei der Besetzung aller Funktionen berücksichtigt werden. In den letzten drei Jahren konnte Semperit dem  Ziel „Die kontinuierliche Erhöhung des Frauenanteils in der Führung” Schritt für Schritt näherkommen und zunehmend Frauen für Managementpositionen gewinnen. Neben der Förderung von Diversität und Gleichstellung arbeitet Semperit intensiv daran, jede Form von Diskriminierung zu vermeiden.

 

Darüber hinaus haben Sie auch Patente angemeldet. Welche sind das und wie kam es dazu?
Innerhalb von Projekten im Bereich Chemie der Kunststoffe, die mit öffentlichen Fördermitteln finanziert wurden, habe ich mit meinen KollegInnen der Montanuniversität Leoben und der PCCL GmbH völlig neue Lösungsansätze für intelligente Materialkonzepte, den sogenannten „smarten Materialien“, entwickelt. Aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen sind zwei Patente entstanden.

Das erste Patent beschreibt die Derivatisierung und Funktion eines photostrukturierbaren, elektrisch leitfähigen Polymers auf Basis von Polyanilin. Das Material ist beispielsweise für den Einsatz in organischen Leuchtdioden interessant. Kunststoffe sind üblicherweise nicht-leitfähige Materialien. Mit dem neuartigen Polymer ist es mit Hilfe von Licht möglich, elektrisch leitfähige Strukturen in das Material zu schreiben. Das Potential dieses Materials wurde in der Herstellung von maßgeschneiderten organischen Leuchtdioden mit Strukturen bis in den µm-Bereich, die schnell und effizient gestaltet werden können, eindrucksvoll gezeigt.

Im zweiten Patent ist ein Herstellverfahren eines lichtempfindlichen Monomers und das Monomer selbst beschrieben. Die Entwicklungen dazu entstanden im Rahmen meiner Forschungsarbeiten zur Dissertation. Mit ebendiesem Monomer können Kunststoffe gestaltet werden, die sich unter Einwirkung von UV-Licht abbauen und somit recycelbar werden. So können Rohstoffe in Verbunden mit geringem Aufwand und energieeffizient, wie beispielsweise aus Mikrochips, voneinander getrennt und rückgewonnen werden.

 

Warum glauben Sie gibt es so wenige Frauen, die Patente anmelden?
Der generell geringe Anteil an Frauen in Technik und Wissenschaft spielt hier sicher eine zentrale Rolle.

 

Sie haben Kunststofftechnik an der Montanuniversität Leoben studiert und auch promoviert. Wie kam es dazu?
Die endgültige Wahl für eine Studienrichtung stand in der Maturaklasse noch nicht fest. Ich wusste jedoch, dass ich mein Studium in Richtung Naturwissenschaften und Technik, in der sich meine Begeisterung für Chemie, Materialwissenschaften und Mathematik wiederfinden und ausbauen lässt, auslegen wollte. Durch einen „Tag der offenen Tür“ an der Montanuniversität Leoben bin ich auf die Richtung „Kunststofftechnik“, die viele dieser Interessen für mich vereint, aufmerksam geworden. Zusätzlich hat dieser Infotag das familiäre Umfeld, sowie den sympathischen, leichten und vertrauten Umgang der StudentInnen untereinander und mit den ProfessorInnen, vermittelt. Das hat mich schließlich überzeugt an der Montanuniversität zu studieren.

Während meiner Masterarbeit habe ich meine Liebe und Begeisterung zu intelligenten Materialkonzepten im Bereich Chemie der Kunststoffe entdeckt. Zum Zeitpunkt meines Masterabschlusses erlebten diese Materialsysteme in der Grundlagenforschung gerade ihren Aufschwung und entwickelten sich rasant. Es ergaben sich am Lehrstuhl Chemie der Kunststoffe interessante Projekte auf diesem topaktuellen Forschungsgebiet und ich bekam die Gelegenheit meine Dissertation in diesem Bereich zu verfassen, die ich mit Freude ergriff.

 

Was braucht es Ihrer Meinung nach noch, damit mehr Mädchen und Frauen in Naturwissenschaft und Technik Fuß fassen?
Die Grundlage für die Entwicklung von Interessen wird sicher schon in der Kindheit gelegt und ist ein Zusammenspiel von elterlicher und pädagogischer Erziehung und sozialem Umfeld. Rollenklischees werden oft entgegengesetzt der intuitiven Bedürfnisse/Interessen des Kindes anerzogen und vermittelt. So entsteht für viele talentierte Mädchen und Frauen ein unüberbrückbares Hindernis oder auch gar kein Zugang, den Weg in Richtung Naturwissenschaft und Technik einzuschlagen.


Wordrap mit Simone Viola Radl

Womit ich als Kind am Liebsten gespielt habe:
Es gab für mich nicht das eine Lieblingsspielzeug. Ich war ein besonders neugieriges Kind und wollte stets die mich umgebenden Dinge, die Funktion, deren Einzelteile und deren Ursprung erkunden und nachvollziehen. So war nichts sicher vor mir und wurde auseinander gebaut und zerpflückt: Audiokassetten wurden beispielsweise von mir abgerollt, um zu entdecken woher die Musik kommt und viele Geräte wurden auseinandergebaut, sowie auch deren Einzelteile nach bestimmten Mustern geordnet: Ähnlichkeit in Form oder Farbe.

Vor allem aber habe ich es geliebt im Freien zu spielen: Ich drehte mit Ausdauer immer und immer wieder Steine um, um zu erkunden was sich jeweils darunter verbirgt und ob sich die Entdeckungen vom vorherigen Stein abheben. Ich buddelte Löcher, um Wurzeln und Erde zu untersuchen. Ich zerpflückte gerne Blumen und Blätter und war fasziniert davon, wie sie sich dadurch veränderten, und siebte unermüdlich den Sand in der Sandkiste, um meine Vorstellung von Ordnung herzustellen.

Dieses Studium würde ich jetzt wählen:
Spontan beantwortet möchte ich die Erfahrungen und Erkenntnisse aus meiner technischen Ausbildung definitiv nicht missen wollen und würde mich in erster Linie vermutlich wieder für einen technischen, naturwissenschaftlichen Zweig entscheiden. Interaktionen mit Menschen, Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen und deren Dynamiken faszinieren mich auch grundlegend, so wäre die Wahl eines Studiums aus dem Fachbereich der Sozial- und Geisteswissenschaften ebenso naheliegend.

Mein Vorbild ist:
Es gibt viele inspirierende und kluge Menschen, die eine Vorbildwirkung für mich haben. Müsste ich eine einzige Person nennen, ist es Albert Einstein. Da meine Eltern mir als Kind den Spitznamen „Einstein“ gegeben haben, hat mich seine Person und Persönlichkeit schon früh begleitet und fasziniert - sein bemerkenswerter und revolutionärer Werdegang als Physiker und Wissenschaftler mit seinen fundamental bedeutenden Theorien, vor allem aber auch sein Einsatz für Frieden und Völkerverständigung, beeindrucken mich. Generell machte sich der berühmte Wissenschaftler auch viele Gedanken über den Sinn des Lebens und den Menschen, mit welchen ich mich zusätzlich zu seiner leidenschaftlichen Neugierde identifizieren kann und selbst oft wiederfinde: Wissen muss phantasievoll und geistreich eingesetzt werden, um eine Lösung zu erhalten. Außerdem ist es wichtig, alles zu hinterfragen und sich seine kindliche Neugier stets beizubehalten.

„Freude am Schauen und Begreifen ist die schönste Gabe der Natur.”

Was ich gerne erfinden würde:
Eine Zeitreisemaschine, um Vergangenheit und Zukunft zu erkunden und zu erleben und um bemerkenswerte Personen persönlich zu treffen.

Wenn der Frauenanteil in der Technik 50 Prozent beträgt …
… ist die Aufmerksamkeit/Sensibilität und das Verständnis für Ideen und Argumente in TechnikerInnenteams hoch. Die Erhöhung des Anteils an Diversität in Teams bringen umfassendere Problemdefinitionen, mehr Alternativen, bessere Entscheidungsfindung und bessere Kompromisse mit sich.

Wenn der Frauenanteil in Führungspositionen 50 Prozent beträgt …
… schafft man ein ausgeglichenes MitarbeiterInnen-Engagement, sowie einen stärkeren Glauben an Projekte, Produkte und Dienstleistungen.

Was verbinden Sie mit Innovation:
Innovation ist ausgehend von Ideen der Prozess für Transformation, Entwicklung und Verbesserung, damit ein Unternehmen langfristig am Markt bestehen kann. So individuell Unternehmen sind, so individuell sind auch die jeweiligen Innovationen. Die Grundlage für jede Innovation ist für mich die Vereinigung von Neugierde, Kreativität, Mut und Querdenken.

Warum ist Forschungsförderung in Österreich wichtig:
Entwicklung ist auf allen Ebenen wichtig. Die Forschung ist unabdingbar und essentiell für jede Art der (Weiter-)Entwicklung. Durch die Forschungsförderung wird die fortlaufende Entwicklung in Wissenschaft und Wirtschaft monetär ermöglicht und unterstützt und schafft gleichzeitig die (inter)nationale Vernetzung von interdisziplinären Teams.

Meine Leseempfehlung lautet:
Ich lese gerne Romanliteratur verfasst von den folgenden russischen Titanen des 19. Jahrhunderts:
Nikolai Gogol, „Die toten Seelen“
Lew Tolstoi, „Anna Karenina“